Wir leben in fragmentierten Zeiten. Der Neoliberalismus hat radikalisiert, was immer schon Wesen des Kapitalismus war: Alle in Beziehung zu setzen, und zwar als Getrennte. Meine Be­dürfnisse sind abhängig von der Arbeit anderer, denen meine Bedürfnisse so äußerlich bleiben wie die Geld- und Handelsbeziehungen, die uns aneinander ketten. Der Kapitalismus stellt eine universale Weltgesellschaft her und zerlegt sie zugleich in Nationalökonomien, Klassen, Industriezweige, Beschäftigte und Arbeitslose. Zudem fügen Kolonialismus, Imperialismus, Rassismus und Sexismus weitere Demarkationslinien hinzu. Der fordistische Klassenkompromiss bettete das Individuum in Großorganisationen: Der Be­trieb, die Gewerkschaft, die Volkspartei und der Staat sorgten sich um den Einzelnen, wenn er sich ein- und unterordnete. Der Neoliberalismus mit seinem Kult von Individualismus und der Differenz, von Ich-AGs, schamlosem Egoismus und Prekarität, treibt dagegen die Zerlegung der Gesellschaft wieder voran. Noch nie waren alle so abhängig voneinander, noch nie muss­ten sich alle so individuell gerieren.   Doch selbst in der unbedingten Kälte, mit der sich viele an allgegenwärtiges Elend, Aus­schluss und Gewalt gewöhnen, scheint das abgewehrte Bedürfnis nach solidarischem Leben auf. Die verbissene Hartherzigkeit, mit der der Bettler in der U-Bahn und die Migrantin auf dem Mittelmeer abgewehrt werden, ist geronnene Angst, das Eigene zu verlieren. Der Fa­schismus speist sich auch aus dieser Quelle. Er verspricht exklusive „Solidarität im Volk“, wenn alles Fremde ausgetrieben wäre. Das Gemeinsame ist die Hetzjagd gegen die anderen zur Sicherung des Eigenen auf Kosten von Schwächeren. Dieses Versprechen verfängt, be­dient sich der Differenzen, um „Solidarität“ unter den vermeintlich Gleichartigen zur Gewiss­heit zu erheben. Solche „Solidarität“ ist keine, weil sie weder egalitär noch frei noch universell sein will. Fa­schismus und Nationalismus versprechen: Unter- und Einordnung ins Kollektiv, Pflicht zur Loyalität, Sicherheit bei Gehorsam, legitime Aggression gegen Fremde. Die faschistische und nationalistische Verkehrung von Solidarität spitzt einerseits die Kälte und grassierende Angst aller vor allen zu, kontert sie andererseits im Leitbild eines repressiven, exklusiven und ag­gressiven Kollektivs. Das scheint gegenwärtig vielen Menschen attraktiver als der nackte Neoliberalismus. Doch es gibt noch eine andere Gegenbewegung zur neoliberalen Fragmentierung. Weltweit sprießen meist kommunitäre, lokale, partikulare Zusammenkünfte, in denen Menschen nach Commons streben – sei es um der nackten Not oder der Entfremdung und Entmündigung durch Markt und Staat zu entkommen. Und trotz der rassistischen Dauerhetze auf allen Kanä­len zeigen sich viele Menschen angerührt von der Verzweiflung und Bedrohung der Flüchten­den und bieten ganz praktisch Hilfe an. Empathie und humanitäre Hilfe sind jedoch selbst noch keine Solidarität. Sie tendieren zu Paternalismus, wo es ihnen an Reziprozität, an Gleichheit fehlt. Auf Gleichheit hingegen setzte die traditionelle Arbeiterinnenbewegung. In ihr wurde ver­sucht, Solidarität aus der gleichen materiellen Lage der Industriearbeiterinnen abzuleiten. Bis heute beeindruckt sie durch ihre Gestaltungsmacht und Durchsetzungsfähigkeit. In ihrer insti­tutionellen Formation negierte diese Arbeitersolidarität jedoch bestehende Differenzen. Der Anspruch auf Hegemonie der weißen Arbeiterklasse musste deshalb die antikolonialen, femi­nistischen, lumpenproletarischen Ansprüche abwehren. Wenn Solidarität verschiedene Unterdrückungsverhältnisse überbrücken und eine Vielzahl von Lebenslagen verschwistern soll, bedarf es einer Konstellation von Begriffen, um Solidari­tät als politischen und emanzipatorischen Schlüsselbegriff denken zu können. Das revolutio­niert das Leitmotiv von 1789: Freiheit, Gleichheit, Universalität. Solidarität ohne Freiheit und Gleichheit heißt Paternalismus, Hierarchie, gut gemeinte Fremdbestimmung, repressive Kol­lektivierung. Solidarität aber stellt eine Beziehung her, die auf Freiwilligkeit beider Seiten be­ruht. Sie kann einseitig verweigert werden, weil die Interessen der einen Seite die der anderen negieren. Die Schwierigkeit der Solidarität liegt dann darin, mit diesen Interessenskonflikten umzugehen: Die ökologische Katastrophe zerstört schon längst die Lebensgrundlage von Mil­lionen, vor allem im globalen Süden, anderseits hoffen Millionen von Menschen ihre materielle Lage durch eine wachsende Ökonomie zu verbessern. Das Recht auf Teilhabe am globalen Reichtum und das Recht auf ein Ende der Umweltzerstörung stehen im Widerspruch. Wie können solidarische Beziehungen über derart fundamentale und zugleich die einzelnen Men­schen konkret betreffenden Unterschiede aufgenommen werden? Solidarität ohne Universalität heißt Exklusion, Gewalt, Ausbeutung. Bis in die alltäglichsten Verrichtungen hinein ist das Leben im Kapitalismus bereits auf alle anderen Menschen bezo­gen. Das gilt für die ökologischen Konsequenzen meiner Autofahrt, für eine Vielzahl von Pro­dukten wie Handy und Kaffee bis hin zu den Verflechtungen des Finanzkapitals, von denen die nationale Steuerlast und Rentenhöhe abhängig sein kann. Schließlich sichern Spekulationen auf Grundnahrungsmittel und deren tödliche Folgen nicht selten die Renten von Millionen Men­schen in den USA und Europa. Solidarität ist folglich nur noch unbegrenzt denkbar. Damit wird Solidarität, obwohl in tausendfachen konkreten Beispielen beschreibbar, zugleich abs­trakt: Ihr Bezugspunkt ist Universalität, Menschheit, Weltgesellschaft. Weder Freiheit noch Gleichheit und Universalität sind gegeben. Unsere Beziehungen sind mannigfaltig unfrei, ungleich und partikularistisch. Solidarität beruht auf Differenzen und will diese zugleich überwinden, soweit sie Ungleichheit, Unfreiheit, Exklusion bedeuten. Sie er­wächst nicht aus der Identität der Lebenslagen und verlangt nicht die Identität der Menschen. Kreolische Solidarität zielt auf die Versöhnung der Differenzen in einer nicht-identitären Ver­bundenheit aller mit allen. Das ist ganz konkret gemeint: Solidarische Beziehungen zwischen Amazon-Beschäftigten und Autobauern, griechischen Rentnerinnen und nigerianischen Wis­senschaftlerinnen, Bergarbeitern und Queers. Die Utopie besteht in einem solidarischen, aber nicht nach Identität strebendem Leben. Eine Aktivistin im Hambacher Forst resümierte ihre Erfahrungen konkreter Solidarität: „Sie werden nie verstehen, wie es ist, mit Menschen zu­sammenzuleben, denen es scheißegal ist, wie du heißt, wie alt du bist oder was für einen Schulabschluss du hast. Was ich hier gelernt habe, hätte ich draußen in der Gesellschaft nie gelernt. Es war die beste Zeit meines Lebens.“ Ähnliche Erfahrungen gelungener Solidarität wurden wieder und wieder von Teilnehmerinnen der Occupy- Proteste, der Streiks bei der Bahn oder in der Charité oder der Revolution auf dem Tahrir- Platz beschrieben. Hierin lebt die auf eine andere Zukunft bauende Bereitschaft, über alle Differenzen hinweg in Beziehun­gen zu treten, um unsere Beziehungen zu revolutionieren. Solche Praxis für die Utopie braucht nicht nur Begehren und Agieren, sondern ebenso Erkenntnis und Ethik. Als kommu­nistische Haltung könnte sie im Widerspruch zur aktuellen neoliberal-national-faschistischen Gegenwart begriffen werden. Ihr Ziel, das man Kommunismus nennen kann, heißt: Solidari­sche Weltgesellschaft der Freien und Gleichen. Solidarität ist das Mittel zu diesem Ziel. Und das Ziel.