Das Exil ist ein Ort, der sich auf keiner Landkarte findet. Flüchtlinge durchkreuzen politische Grenzen und symbolische Ordnungen. Ihre Wege verbinden unterschiedlichste Orte der sozialen, ökonomischen und kulturellen Verhältnisse, deren Hierarchien sie auf der Flucht von einem zum anderen Land besonders drastisch erfahren. Als Fluchtpunkt dieser Erfahrungen wird das Exil einerseits zu einem möglichen Ort der Erkenntnis jener Hierarchien, andererseits bleiben aber die politische Marginalisierung und Rechtlosigkeit mit ihren zerstörerischen Konsequenzen für Leben und Psyche der Flüchtlinge bestehen. Darauf hat bereits Hannah Arendt unter dem Eindruck der Displaced persons nach dem Zweiten Weltkrieg hingewiesen. Der damals schon diagnostizierte Niedergang des Nationalstaats, der Bürgerrechte zwar garantierte, aber nur für seine eigenen Bürger, hat sich im Zuge der Globalisierung weiter fortgesetzt. Nationalstaaten verlieren ihre Integrationskraft, treiben ethnisch-partikulare Identitäten hervor und treten nach innen wie nach außen als polizeiähnliche Interventionsmächte auf. Ist es unter diesen Bedingungen möglich, Emanzipation und Exil zusammen zu denken?

Wie in den vorangegangenen Veranstaltungsreihen (Kritische Theorie und Poststrukturalismus; Theorie des Faschismus – Kritik der Gesellschaft; Wie wird man fremd?; Geschichte nach Auschwitz; Ästhetische Theorie – Kunstwerk und Kritik) wollen wir diese Frage im Anschluss an die Kritische Theorie und den Poststrukturalismus erörtern, aber auch andere Ansätze diskutieren, die den Fluchtlinien des Exils auf der Spur sind. Um das Verhältnis zwischen dem Exil als Erkenntnisort und als Deprivationserfahrung zu begreifen, laden wir dazu ein, politische Realitäten ebenso wie philosophische Denkfiguren, historische Beispiele und literarische Zeugnisse des Exils zu untersuchen.

In den 90er-Jahren haben die Bilder von »Überflutungen« und »Flüchtlingsströmen« die Politik des Schengener Abkommens und die Einschränkungen des Asylrechts begleitet. Fluchtbewegungen wurden und werden zu gigantischen Bedrohungen stilisiert, um daraus die Forderung abzuleiten, die Grenzbefestigungen noch undurchlässiger zu machen.

Dem individuellen Grenzübertritt mit seinen traumatischen Erfahrungen stehen auf der einen Seite diese staatlichen Abwehrmaßnahmen gegenüber, auf der anderen manche sozialpsychologischen und biographischen Stilisierungen, die die reale Flucht als symbolische Grenzerfahrung verstehen. Auch die Populärkultur bedient sich des Exils als Projektionsfläche und spielt mit dem prekären Status der »migra-torischen« Erfahrung: als Metapher für Identitätsfindung, als Distinktionsgewinn im multikulturellen Durcheinander oder auch als Codewort für das verkannte Genie. Zu fragen wäre, inwieweit diese Idealisierungen und Projektionen Leiderfahrungen abwehren und in eine kulturell akzeptable Form entsorgen. Gegenüber den konformistischen Übersetzungen einer als exotisch verstandenen Peripherie ins hegemoniale Zentrum wäre das Exil als Ort des Widerstreits zu behaupten, an dem das Zentrum in die Fluchtlinie der Peripherie gerät. Statt auf einer imaginären Ebene der Welt zu entfliehen, intensiviert das Exil dann eine »Flucht auf der Stelle«, um die »Welt und ihre Vorstellung in die Flucht zu schlagen«, wie Deleuze und Guattari es in ihrer Kafka-Studie formuliert haben.

Während in der Antike die Verbannung ins Exil ebenso Strafe wie Schutz vor derselben bedeutete, bezeugt Kafkas »Prozeß« den Bann einer Souveränität, die das Subjekt aus der Gemeinschaft des Rechts verstößt, um es um so erbarmungsloser den Anordnungen dieser Gemeinschaft zu überantworten. Unter dem Bann dieses Ausnahmezustands gibt es keine Verantwortung mehr. Nicht einmal die disziplinierende Gewalt des Gefängnisses reicht aus, um an dem Verbannten ein Exempel zu statuieren. Josef K. geht weiter seinem Job in der Bank nach, bis sein Urteil vollstreckt wird. Im 20. Jahrhundert werden Lager für die Ausgestoßenen errichtet, in denen der Bann von der Internierung über die Verwertung bis zur Vernichtung reicht. Giorgio Agamben spricht vom »Lager als biopolitischem Paradigma der Mo-derne«.

Die Kritik an der Ausgrenzung der Individuen und ihrer Degradierung zu »Exemplaren« verbindet die Kritische Theorie und den Poststrukturalismus. Nachdem Adorno und Horkheimer im Exil das »beschädigte Leben« reflektiert und dabei aufgedeckt hatten, wie die Aufklärung sich schließlich gegen sich selbst wendet, verfolgten Foucault, Deleuze und Guattari Fluchtlinien einer Politik, die die »Heterotopien« der Lager und das »Erkenntnisprivileg des Exils« (Enzo Traverso) in deterritorialisierende Energien verwandeln. In den neomarxistischen Worten der Analyse des »Empire« bei Michael Hardt und Antonio Negri: »Ein Gespenst geht um in der Welt, und sein Name ist Migration.«

Anders als »Migration«, »Exodus« oder »Diaspora« bezieht sich der Begriff des Exils in erster Linie auf staatliche Verfolgung und Vertreibung. Im Exil kehrt sich die kollektive Zuschreibung des politisch, ethnisch, religiös, sexuell oder aus anderen Gründen Verfolgten in eine individuelle Subjektposition um, so dass sich die Frage nach der spezifischen sozialen Situation im Exil stellt. Eine kritische Theorie muss dabei den Fluchtlinien des Exils in allen ihren Erfahrungen, Verwerfungen und Überlagerungen nachgehen.

So stellt sich die Frage, was mit einer Theorie wie der der ‚permanenten Revolution' geschieht, die von ihrer eigenen Revolution ins Exil getrieben wird: Ist sie dann immer noch revolutionär oder nur noch Theorie? Und warum hat z. B. Fanon in seiner Revolutionstheorie sein Migrantendasein nie reflektiert? Lässt sich das Exil als Desertion verstehen, die die Mobilität des Exils in eine politische Haltung verwandelt und sich als revolutionäre Strategie mit anderen Fluchlinien aus dem Elend dieser Welt verbindet?

Bewegungen wie die PKK, die Bewegung der Sikhs oder auch die Black Panthers, welche oft unter dem Signum der nationalen Befreiung antraten, haben in der Dias-pora an Kraft gewonnen. Einige formulieren gerade aus dieser Situation der »Ferne« heraus Programme, die eine imaginäre Heimat beschwören und sich auf ein völkisches Kollektivsubjekt berufen. Das Exil verkehrt sich dann in einen Diaspora-Nationalismus mit verheerenden Konsequenzen.

Die jüdische Bevölkerung war in vielen Ländern assimiliert, ohne dass die seit der Aufklärung grassierende antisemitische Denunziation der Juden als »Staat im Staat« nachgelassen hätte. Die Zionisten reagierten auf die Verweigerung der Emanzipation, indem sie sich selbst als Exilanten definierten und dieses Exil durch die Grün-dung eines eigenen Staates zu beenden suchten.

Im biopolitischen Zirkel produziert die Ökonomie Flüchtlinge, die der Staat gleichzeitig kriminalisiert. Wie können die Staatenlosen eine neoliberale Staatsform los werden, die sie an einem anderen Ort auf dem Globus vertrieben hat? Gibt es ein Ent-kommen aus dem Zirkel von drohender Vertreibung und anerkennender Beherr-schung? Und was bedeutet dieser Zirkel für die noch nicht Vertriebenen, sondern nur Beherrschten?

Die Beiträge dieser Vortragsreihe werden keine abschließenden Antworten auf diese Fragen finden, aber vielleicht andeuten können, wo sich staatskritische Fluchtlinien einer solidarischen Politik des Exils abzeichnen.